Da mich mein aktueller Artikel noch eine Weile beschäftigen wird, hier ein etwas älterer Text. Der Aufhänger ist nicht mehr ganz aktuell, das Thema umso mehr.
Neulich wurde ich Zeuge, wie ein ehemaliger Klassenkamerad einer gemeinsamen Facebook-Freundin diese Freundschaft in aller Öffentlichkeit gekündigt hat. Grund war ihr Posting einer Petition gegen „tendenziöse Berichterstattung beim ZDF“ anlässlich einer kritischen Dokumentation über den Jägerstand. Sie trug den Titel „Jäger in der Falle“ und prangerte vornehmlich die angeblich gängige Praxis unter Jägern an, Wildtiere gezielt anzufüttern, um eine bessere Jagdtausbeute zu erzielen, und dadurch den Regulierungsauftrag zu unterlaufen. Laut Petition habe der Beitrag gegen die staatsvertragliche Verpflichtung des öffentlich-rechtichen Rundfunks zu objektiver, ausgewogener Berichterstattung sowie gegen die Sorgfaltspflicht gemäß Pressekodex verstoßen. Für unseren tierrechtsaktiven Klassenkameraden aber sind Jäger objektiv „Lustmörder“ und er könne mit niemandem „befreundet“ sein, der das anzweifelt. Seine Sicht belegte er mit einem Zitat von Theodor Heuss: „Jagd ist nur eine feige Umschreibung für besonders feigen Mord am chancenlosen Mitgeschöpf. Die Jagd ist eine Nebenform menschlicher Geisteskrankheit.“ Wie man über das erste Google-Suchergebnis auf Wikiquote feststellen kann, ist dieses Zitat verfälscht. Nur der zweite Satz stammt von Heuss, er lautet vollständig: „Jägerei ist eine Nebenform von menschlicher Geisteskrankheit, von der ich nie befallen war.“ Der erste Satz des montierten Zitats aber sei „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Erfindung eines Tierrechtsaktivisten“.
Mir scheint nun aber der zweite Satz ohnehin der spannendere, er stellt auch erst den Bezug zum Lustmörder, das heißt zur Frage nach der „Lust“ des Lustmörders wieder her. Doch die pathetisierende Zitatmontage verfälscht den Ton der Aussage sicher noch mehr als entkontextualisiertes Zitieren ja sowieso, aber sie übergeht vor allem Heuss’ eigenen später folgenden Hinweis auf „’Ironie’“, auch wenn der zunächst in der selbst ironischen Distanz eines Zitats erfolgt.
Nun finde ich allerdings sowohl Heuss’ Aussage zutreffend wie auch die ZDF-Doku, bei viel grundlegender Zustimmung, tatsächlich etwas tendenziös, reißerisch, unausgewogen und fehlinformierend. Die Jäger, so „geisteskrank“ bei einigen oder vielen die Lust am Töten sein mag, sind sicher nicht der größte Faktor am weltweit wachsenden Wildbestand, viel entscheidender ist die Tatsache, dass unser Ökosystem durch unnachhaltige Land- und Forstwirtschaft und zahllose weitere Gründe insgesamt destabilisiert ist. Was aber die „Geisteskrankheit“ angeht, so könnte man doch überspitzt sagen, dass ohne einige ihrer Nebenformen die menschliche Kultur überhaupt nicht denkbar wäre. Erst vergangenen Sommer hat DIE ZEIT in einer Titelgeschichte über psychisch auffällige Top-Manager unter der Überschrift „Irre erfolgreich“ nicht gänzlich unüberzeugend den alten Topos von ‚Genie und Wahnsinn‘ aufgewärmt. Doch eine der verbreitetsten Arten des Wahnsinns, eine die wir alle kennen, ist zum Beispiel die Liebe. Wer kennt nicht das beinahe vollständige Aussetzen von Verstand und Urteilsvermögen, das einem das Verliebtsein beschert?
Unsere biologische Arterhaltung und zivilisatorischer Fortschritt beruhen auf dem Zusammenspiel von Wahnsinn und Vernunft. Doch dabei scheint es notwendigere und weniger notwendige Formen des Wahnsinns zu geben. Kaum jemand dürfte etwa die Notwendigkeit der Liebe für unser Zusammenleben bestreiten – auch wenn sie es manchmal vielmehr erschwert. Aber für die Befriedigung unseres archaischen Jagdtriebs gilt das meines Erachtens nur insoweit, als sie zur Unterstützung der Selbstregulation eines so nachhaltig wie möglich bewirtschafteten Ökosystems wirklich unabdingbar ist – und das dürfte auch nicht allzuweit reichen. Die hysterische Übersprungshandlung indes, auf der ganzen Welt flächendeckend Soja- und Maismonokulturen zur Herstellung von Bioenergieträgern anzubauen, damit aber unbeabsichtigt auch Wildtieren ein übernatürliches Schlaraffenland zu bieten, darf wohl – auch aus meiner Vegetarierperspektive – als mindestens ebensowenig notwendig angesehen werden.
Am unnötigsten ist allerdings sicher eine Art von Fatalismus, die ohne zu zögern eine Freundschaft beendet, nur weil sie in ihrer wie gut auch immer gemeinten Verblendung nicht mehr fähig ist, eine bei aller Berechtigung leider doch auch tendenziöse und nicht ausreichend weitsichtige Fernsehdokumentation richtig zu beurteilen.