Wer ist das kranke Schwein?

Mehr als unnötig – Foto: stevepb/Pixabay

Etwas spät nun noch der Hinweis auf meinen kleinen Artikel beim Freitag und bei demokratiEvolution zur digitalen Lynchjustiz im Fall Edathy und ihren befürchteten Folgen für die Demokratie. Zwei Stunden später hat sich dann auch der Freitag-Verleger und -Chefredakteur zum Thema geäußert.

Immer noch passend zum Thema ist auch ein Kommentar aus dem vergangenen Jahr vom ebenso streitbaren wie wortmächtigen Vorsitzenden Richter am Bundesgerichtshof Thomas Fischer:

Mag auch nichts mehr sicher scheinen in Deutschland (diesem Fettauge auf der See der Auszehrung), mag auch niemand mehr wirklich wissen, was Wahrheit und was Lüge ist und wer die Wahrheit überwacht, mag der erwiesene Geheimnisverrat den Minister zum Ehrenmann machen und mag es der schlimmste von allen politischen Skandalen sein, dass er herauskommt – immerhin eines bleibt uns doch gemeinsam: unsere unschuldige Liebe zu den sexuell ausgebeuteten Kindern.

Der Schutz der Kinder, namentlich der unterprivilegierten, der armen, der in Containern hausenden, der bettelnden, stehlenden, der frühreifen, armen Kleinen in Rumänien und Afghanistan, Kolumbien und Tansania, liegt uns am Herzen wie sonst nichts auf der Welt. Mögen sie ihr Dasein fristen auf den Müllhalden unseres Reichtums, so wollen wir doch zumindest ihre Seelen retten und ihre Menschenwürde!

Jugendliche, kindliche Körper, halb bekleidet oder nackt, in sexualisierten Posen! Ekelhaft! Zur Beruhigung greifen wir zur Vogue, zur Elle und zu Harper’s Bazaar. Da leben unsere magersüchtigen kleinen Prinzessinnen; im Junkielook gestylte minderjährige Luder, rund um die Welt gecastet und mit zwanzig vergessen. […]

Man wagt es kaum zu sagen: Vielleicht sollte sich der Rechtsstaat – jedenfalls vorläufig, bis zum Beweis des Gegenteils – bei dem Beschuldigten Sebastian Edathy einfach entschuldigen. Er hat, nach allem, was wir wissen, nichts Verbotenes getan. Vielleicht sollten diejenigen, die ihn gar nicht schnell genug in die Hölle schicken wollen, vorerst einmal die eigenen Wichsvorlagen zur Begutachtung an die Presse übersenden.

Auch Zwangsprostitution und Menschenhandel sind natürlich okay, die Damen und Herren sind doch schließlich volljährig. Oder wie war das?

Update 12. 3.

Inzwischen hatte sich Fischer auch zur Verfahrenseinstellung zu Wort gemeldet:

Schon der von der Staatsanwaltschaft rein zufällig genannte Titel des gewiss hoch ambitionierten Streifens: ‚Buben, freiwillig abgerichtet‘ lässt Grauenhaftes ahnen. Er klingt wie ‚Blutjunge Teens, schamlos verführt‘ oder ‚Lolitas extrem‘ – also wie die Kinohits der 1970er, die Vati bis heute im Keller aufhebt (aus cineastischen Gründen).

Das Volk will nackte Jugendliche auf gar keinen Fall sehen und kann den Anblick auch gar nicht ertragen – schon die Vorstellung verursacht ihm Übelkeit. Man wendet sich Erfreulicherem zu: zum Beispiel den hervorquellenden Brüsten der Moderatorin der Kindershow ‚Song Contest‘. Oder dem Hintern eines Girls im Magazin: angeblich 19, sieht aus wie 15. In der Businessclass hält der Purser seriöse Magazine für den Businessman bereit: Gala, Bunte und Harper’s Bazaar. Innen: Ausgemergelt hohlwangige Knochengerüste sogenannter Frauen, aufgeschäumt aus dem Nichts. Missbraucht von sich selbst und jedem. Kleine Mädchen, 16 Zentimeter über der Wirklichkeit balancierend. Eingefallene Flanken, fettfreie Oberschenkel, Brüste so wertvoll wie Fruchtzwerge. 90 Prozent der 15-Jährigen konsumieren oft oder gelegentlich harte Pornografie. Und niemand kann sich vorstellen, was Herrn Edathy trieb, unseren undurchdringlichen indischen Kunst- und Knabenfreund?

‚Bild‘ nahm sich am 9. März seiner an: Dort zeigt „Rudi“ (63), Spediteur und „Herr über 35 Laster“ (sic!), auf Seite 3 seinen Kipper vor, auf den er einen Edathy-feindlichen Witz hat kleben lassen. Das Bild: angeblich 93.000-mal auf Facebook empfohlen. In derselben Ausgabe finden wir ein 20 Zentimeter großes Foto der „süßen Josefine“ (14), die mit ihrem heimlichen Liebhaber (47) vielleicht ans Mittelmeer geflüchtet ist. Wir freuen uns auf die Fortsetzung. […]

Darf die Justiz eine Verfahrenseinstellung wegen geringer Schuld von einem öffentlichen Eingeständnis abhängig machen? Das ist nicht verboten, aber es ist peinlich. Das Geständnis hat keine rechtliche Bedeutung, seine Erzwingung zeigt bloß überdeutlich, dass es um das Überspielen eigener Schwäche durch eine unglücklich agierende Staatsanwaltschaft geht.

Dazu im Freitag auch ein Einwurf von Marlen Hobrack.

Und lyrisch-episch von Jens Tuengerthal, auch mit Hinweis auf einen wesentlich gravierenderen Fall.

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